„Heimat“ im Wandel der Zeit… ?

von Manfred Schröder

1. Teil

Der Heimatbund Emsdetten fördert die Heimatkunde, sowie Kultur-, Heimat- und Brauchtumspflege. Er will dabei Überliefertes und Neues sinnvoll vereinen, pflegen und weiterentwickeln, damit die Kenntnis der Heimat, die Verbundenheit mit ihr und die Verantwortung für sie in der gesamten Bevölkerung auf allen dafür in Betracht kommenden Gebieten geweckt, erhalten und gefördert wird. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich der Heimatbund intensiv mit dem Thema „Heimat“ auseinandersetzt. In vielen Gesprächen und Diskussionen, besonders im vergangenen Jahr, durften wir feststellen, wie spannend und umfangreich  „Heimat“ sein kann.

Das Wort „Heimat“ wurde in der Vergangenheit zu einem der schönsten Worte der deutschen Sprache gewählt. Es kann für einen Ort stehen, für eine Erinnerung oder auch nur für eine Sehnsucht nach Vertrautem. Je unruhiger die Zeiten, je unsicherer die Zukunft, desto mehr sehnen sich die Menschen nach Geborgenheit, Beständigkeit und festen Wurzeln, und damit nach Heimat in einem umfassenden Sinn. In einer Zeit, in der Flexibilität und Mobilität gefragt sind, in der Globalisierung immer mehr an Bedeutung gewinnt, in einer von den Medien beeinflussten Welt, in der Geld und Vermögen einen immer größeren Stellenwert einnehmen, gibt es das offenbar doch noch: „Heimatgefühl“.

Auch „Heimat“ unterliegt dem Wandel der Zeit. Doch in einer vernetzten, grenzenlos gewordenen Welt, in einer Zeit des sozialen Umbruchs gewinnt „Heimat“ eine neue Bedeutung. Sie hilft den Menschen ihre Geschichte zu verstehen und ihren Platz in der Welt neu zu finden. Nur wer seine Vergangenheit und Wurzeln kennt, kann seine Zukunft gestalten.

Die Gegend, in der der Mensch seine Kindheit verbracht hat, wird aber immer eine besondere Bedeutung behalten.
Die „Heimat“ ist ja nie schöner, als wenn man in der Fremde von ihr spricht.
So hat der Heimatbund in den letzten Monaten viele ehemalige  „Emsdettener“ angeschrieben, die ihre Heimatstadt aus familiären oder beruflichen Gründen verlassen haben und in eine andere Stadt oder ein anderes Land umgezogen sind. Die Bitte, uns ihre Gedanken zu dem Thema „Heimat“ schriftlich mitzuteilen, stieß dabei auf wohlwollendes Interesse.

Insbesondere baten wir um Auskünfte, wie es ihnen in einer neuen Umgebung oder sogar in einer anderen Kultur persönlich ergangen ist. Welche Gedanken und Gefühle sie mit dem Begriff „Heimat“ verbinden. Gibt es eine “zweite Heimat“? Ist „Heimat“ überhaupt noch zeitgemäß, braucht der Mensch so etwas wie „Heimat“? Auch fragte der Heimatbund nach bestehenden Kontakten und Verbindungen zu ihrer Heimatstadt oder zu ihrem Geburtsort. Wir hatten die Empfänger der Schreiben darum gebeten, sich für eine erhoffte Antwort ein wenig Zeit zu nehmen, damit deren Gedanken und Gefühle zum Thema „Heimat“ reifen können. Der Heimatbund war sich durchaus bewusst, dass die Fragen einen möglichen privaten und persönlichen Lebensbereich tangieren.

Wir möchten uns an dieser Stelle recht herzlich für die erhaltenen Stellungnahmen bedanken.
Der Heimatbund möchte in den Ausgaben der Emsdettener Heimatblätter einige Schreiben veröffentlichen oder Passagen daraus zitieren.
Sehr ausführlich hat uns Schwester M. Jacoba Baum (Baums Fine) ihre Gedanken zum Thema „Heimat“ mitgeteilt.
Sie schreibt: „Heimat“, volkstümlich verstanden, ist ein Teil physisch-seelisch-geistigen Lebensraum, in dem wir Geborgenheit empfangen.“ (P. Kentenich, 1951) Ähnlich spricht der Psychologe Reinhardt Ortner: „Jeder Mensch braucht zu seiner physisch gesunden Entwicklung als Grundnahrung Liebe, Zuwendung, Verständnis, Geborgenheit und Nestwärme, welches das Herz berührt!“
So möchte ich sagen, dass „Heimat“ sich zuerst auf eine gesunde Familie bezieht. Sie ist normalerweise Grund- und Urform für den Menschen.

Wer in einer gesunden Familie aufgewachsen ist, hat das Erleben von Liebe und Geborgenheit wie die Muttermilch aufgenommen. Es begleitet den Menschen bis ins hohe Alter hinein, denn ohne die seelischen Erlebnisse der Kindheit gibt es keine „Heimat“ oder kein tief greifendes Heimatempfinden. Man kann die Welt bereist haben, Berufserfolg erreichen oder begeistert sein von Freunden und Naturschönheiten, aber trotzdem wird es keine „Heimat“. Warum? Weil die seelischen Erlebnisse fehlen, die seit Kindheit im Menschen verwurzelt sind.

In ihrem Schreiben nimmt sie weiterhin Bezug auf Pater Josef Kentenich. Heimatlosigkeit ist das Kernstück der heutigen Kulturprobleme, ist der Kulturschatten. Deshalb ist Beheimatung heute die große Aufgabe, die wir auf der ganzen Linie lösen müssen! In der augenblicklichen Lage ist es am Wichtigsten, eine natürliche „Heimat“ zu schaffen!

Dazu die persönliche Meinung von Schwester M. Jacoba Baum:

Zurück zur gesunden Familie! Das will heißen, eine verantwortliche Ehe mit Vater, Mutter und Kindern, die einander lieben, Geborgenheit und Schutz schenken. Ich möchte sagen, dass es dort ist, wo ein seelisches Miteinander, Füreinander und Ineinander gibt. Nur so kann die Natur und Seele berührt und die notwendige Grundnahrung für Leben in sich aufgenommen werden, die wir „Heimat“ nennen.

Schwester M. Jacoba Baum ist heute 86 Jahre alt und hat 1945 Emsdetten verlassen. In dem weiteren Teil ihres Briefes schreibt sie persönliche Heimaterlebnisse.
„ Meine Urheimat ist und bleibt Emsdetten, Josefstraße 28. Gott hat mich ich in einer gesunden Familie aufwachsen lassen. Die Liebe und Treue von beiden Eltern bewundere ich immer wieder, trotz damaliger Armut und verschiedener Sterbefälle von Geschwistern. Vater und Mutter haben mich mit Liebe betreut und erzogen. Ich fühlte mich geborgen und verstanden.

Einige Erlebnisse mögen es zeigen:

Wenn starkes Gewitter war, kam Papa nach Hause. Er nahm mich zwischen seine Knie, um mir die Angst zu nehmen. Das war Liebe und Geborgenheit.
Einmal hatte ich die Pünktlichkeit am Abend nicht beachtet. Das Plaudern mit Freunden war so gut und interessant. Dafür durfte ich an einem anderen Abend nicht ins Kino gehen. Das geschah mit Ruhe und Wohlwollen, aber es war Erziehung.
Meine Bewunderung ist, dass Mama und Papa nie zusammen gestritten haben. Meinungsverschiedenheiten wurden nicht in unserer Gegenwart geklärt. Hatte ich mal einen Wunsch und fragte Mama danach, kam immer die Antwort: „Frage Papa auch!“ Ging ich zuerst zu Papa, konnte er sagen: „Hast du Mama davon auch gesagt?“

Als ich älter und erwachsener wurde, haben es die Eltern ehrfürchtig und wohlwollend, zum Teil froh erkannt. Sie behandelten uns nicht mehr als „unmündig“.
So durfte ich auf eigenen Wunsch den freiwilligen Arbeitsdienst machen. Auch hier habe ich die elterliche Sorge und Liebe erfahren.
Außer dem Elternhaus danke ich Gott auch für gute Lehrerinnen, besonders Fräulein Beckermann, für den guten Pastor Burghoff von der Herz Jesu Pfarrei, wie für meine Chefs Herrn und Frau Hagel. Alle haben mir für das Leben geholfen. Ich darf auch nicht die fünf guten „Wächter“ der Stadt Emsdetten vergessen. Papa, als Hauptwachtmeister, hatte noch vier Kollegen, von denen mir besonders die Wachtmeister Westkemper und Hölscher in guter Erinnerung sind.
Alle gehören zu meinem Heimaterlebnis, die immer wieder „warme Gemütstöne“ wecken.

Zu der Frage: „Gibt es eine „zweite Heimat?“ nimmt Schwester M. Jacoba Baum Bezug auf die Probleme der Flüchtlinge aus Lauterbach, über die in einem Heimatblatt schon ausführlich berichtet wurde. An ihren Problemen sehen wir, wie schwer es ist eine „Heimat“ verlassen zu müssen und eine neue „Heimat“ zu finden. Es ist lobenswert, wie die Emsdettener Bevölkerung alles getan und ihnen eine zweite „Heimat“ bereitet hat. Doch erst die zweite oder dritte Generation wird von einer „Heimat“ im Vollsinne sprechen können. Die ersten Zuwanderer, so sie noch leben, werden immer wieder mit Schmerzen an ihre Geburtsheimat denken und von ihr sprechen. So darf man sagen, dass „Heimat“ von Kindheit an seine Entwicklung hat.

Schwester M. Jacoba Baum ist Schönstätter Marienschwester, sie nimmt zum Schluss ihres Schreibens noch einmal religiösen Bezug zum Thema „Heimat“.
Durch die Erkenntnisse von P. Kentenich hat Gott seit 1914 für viele Menschen in fünf Kontinenten eine Schönstattheimat entstehen lassen, so auch für mich persönlich. Schönstatt ist für mich „Zweite Heimat“ geworden! Warum? Weil das Schönstattwerk als Familie aufgebaut ist: Wir verehren Maria als Mutter der Kirche, die in Christus zum Vater des Himmels führt! Darin ist der Familiengedanke enthalten. Emsdetten hat die Gnade ein Heiligtum der „Dreimal Wunderbaren Mutter“ und „Königin von Schönstatt“ zu besitzen. Wer es gläubig besucht und dort betet, kann innere, seelische Beheimatung erfahren.

Soweit zu dem Antwortschreiben von Schwester M. Jacoba BaumAus Papua New Guinea erhielten wir Post von der Hiltruper Missionarin Schwester Friederika Ahlers MSC. Sie schreibt: „Ihr Satz, lieber Herr Schröder, über die unruhigen Zeiten, unsichere Zukunft, größere Sehnsucht der Menschen nach Geborgenheit, Beständigkeit, fest Wurzeln nach Heimat hat mich besonders angesprochen. Mir kam dabei sofort das Wort des Heiligen Augustinus in den Sinn: „Unruhig ist unser Herz bis es ruhet in Dir, oh Gott!“. Vom religiösem her beantwortet könnte man sagen: „Wir kommen von Gott, sind auf Ihn hin geschaffen und finden unsere endgültige „Heimat“ bei ihm“.

Ich könnte auch über die Heimatlosigkeit der Missionare schreiben, denn wir gehen alle durch eine Phase wo wir erleben und fühlen, dass wir nie richtig zu den Menschen gehören können, für die wir uns bis aufs Blut einsetzen. Anderseits erfahren wir im Heimaturlaub, dass wir so viele Jahre vermisst haben mit total neuen Entwicklungen und neuen Perspektiven, dass viele von uns Missionaren die traurige Erfahrung machen, dass wir auch in unserer „Heimat“ fremd geworden sind, nicht mehr richtig passen. Dann fragen wir uns, wohin gehören wir dann nun letztlich?“

Nach den persönlichen Gedanken als Missionarin in Papua New Guinea beantwortet sie die gestellten Fragen wie folgt:
1965 reiste ich aus um in Australien meine Lehrerausbildung zu bekommen. Dort wurde ich zum ersten Mal mit ganz anderen Menschen aus vielen verschiedenen Erdteilen konfrontiert.

Ich wohnte aber in unserem Schwesternhaus in Melbourne. Dort waren da noch deutsche Schwestern und somit war das Gefühl von Geborgenheit, vom Verstandenwerden, von „Heimat“ einfach schon da. Am Weihnachtsfest fuhren wir alle zur See, es war sehr heiß, aber wir sangen deutsche Weihnachtslieder.

1968 flog ich dann weiter zu meinem neuen Aufgabengebiet nach Papua New Guinea. Nach drei Wochen in unserm Provinzialhaus in Veenapape, wurde ich dann nach Unea-West New Britain versetzt, wo ich 6 Jahre Leiterin einer Grundschule war mit über 500 Schülern und Schülerinnen. Alles war neu, aufregend, manchmal auch erschreckend. Ich konnte nichts mit meinen deutschen Erfahrungen anfangen, weil den Schülern dafür der Hintergrund fehlte. Wir waren zu drei deutschen Schwestern und unter den 10.000 Eingeborenen, die uns alle hoch respektierten, hatten wir eine kleine „Heimat“ zwischen uns.

Die Vielseitigkeit der Aufgaben hat mich immer daran gehindert „Heimweh“ zu haben. Aber Briefe waren immer sehr willkommen und die Neuigkeiten wurden zwischen uns ausgetauscht.

In den 6 Jahren lernte ich jeden Tag etwas Neues von der Insulaner Kultur und lernte auch Verbindungen herzustellen. Die Schüler wollten oft etwas aus meiner „Heimat“ erfahren, besonders über den 2. Weltkrieg. Für uns Missionare hat die „Heimat“ immer eine große Rolle gespielt, weil sie uns die finanziellen Möglichkeiten öffnete, um auf unseren Missionsstationen Krankenhäuser und Schulen aufzubauen. Da bekam das Wort „Heimat“ einen stolzen Klang, denn es bedeutete: „Zusammenhalten, Interesse zeigen und auch Opfer bringen für einen guten Zweck!“ Die „Heimat“ hat noch keinen Missionar in Stich gelassen oder vergessen.

Bei dem Begriff „Heimat“, kommen Gefühle der Zugehörigkeit, Stabilität des Zusammenhaltens, Durchhaltens, auch Gefühle der Treue, Zuversicht und Geborgenheit“

Schwester Friederika Ahlers MSC berichtet weiter: „ Ja, es gibt eine „Zweite Heimat“ für mich hier in Papua New Guinea, wo ich seit 40 Jahren das Auf- und Nieder auf nationaler und Provinz-Ebene mit unseren Leuten durch gestanden habe. Die Probleme der Menschen hier sind auch meine geworden und liegen mir am Herzen. „Heimat“ muss immer zeitgemäß bleiben, besonders im Zeitalter der Globalisierung und der Experimente mit künstlichem Leben zu erzeugen. „Heimat“ prägt die Menschen und darauf muss man stolz sein.

In den Unterrichtsstunden und auch während der Unterhaltung mit meinen jetzt überwiegend Papua New Guinea Mitschwestern spreche ich oft über Erlebnisse aus meiner eigenen Schulzeit. Das waren die Kriegs- und Nachkriegsjahre, über meine Freundschaft mit Frauen, die ich vom ersten Schuljahr her kenne und von den Arbeitskollegen und Kolleginnen von der Amtsverwaltung, die alle dazu beigetragen haben, mir „Heimat“ zu geben. Ich schätze den Kontakt mit allen Missionsfreunden und bin im Heimaturlaub immer sehr beschäftigt, sie alle zu besuchen. Für mich ist die Pankratius-Kirche mit ihrem täglichen Gottesdienst ein unentbehrlicher Kontakt für meine „Heimatstadt Emsdetten“.

Abschließend entschuldigt sich Schwester Friederika Ahlers MSC für die, wie ihre Nichten es ausdrücken, altmodischen deutschen Ausdrücke. Schließlich spreche, denke, träume und schreibe sie seit 1968 nur in Englisch. Sie beendet ihren Brief mit dem Satz: „Es hat mich angeregt, dieses zu schreiben“.

Ein herzliches Dankeschön an Schwester M. Jacoba Baum und Schwester Friederika Ahlers!

Wir haben Ihr Interesse an „Heimat“ geweckt? Der Heimatbund freut sich auf Ihre Reaktionen und Stellungnahmen! Auch für die Zusendung von persönlichen Darstellungen (Briefe, Gedichte, Fotos..) Ihres Nachdenkens wären wir dankbar.

2. Teil

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird „Heimat“ oft als der Ort bezeichnet, an dem man geboren wurde und seine Kindheit verbracht hat. Zugleich umfasst „Heimat“ aber auch das soziale Umfeld und die Umgebung. Diese enge Verbundenheit prägt den Menschen in seinen Einstellungen und in seiner Mentalität. „Heimat“ verkörpert sowohl einen Ort, als auch ein Gefühl.

„Heimat“ ist Lebensqualität und wird von den Menschen erfahren, die mit ihrer kleinen eigenen Welt in Übereinstimmung leben. Bedeutend ist hierbei ein soziales Beziehungsgeflecht aus Verwandten, Freunden und Bekannten. Durch Vertrautheit, Nähe und Verlässlichkeit zwischen den Menschen entsteht „Heimat“.

Das Zeitalter der Globalisierung schreitet unaufhaltsam voran. Was wir essen und trinken, wie wir uns kleiden, welche Musik wir hören, wohin wir reisen und wie wir kommunizieren, mehr und mehr dringen globale Einflüsse in den Lebensbereich aller Menschen. Globalisierung kann aber nicht das Bedürfnis des Menschen nach „Heimat“, nach einem vertrauten Ort der Geborgenheit ersetzen. Erforderlich ist vielmehr ein aufgeklärter Heimatbezug, um die Ortsgebundenheit zu Gunsten von Weltoffenheit zu erweitern.

Auf Bitte des Heimatbundes haben sich  ehemalige Mitbürger zum Thema „Heimat“ geäußert. Nachfolgend veröffentlichen wir in Ausschnitten weitere Antwortschreiben. Maria Walker, geb. Behrens, im Februar 1947 von Emsdetten in die Nähe von London übergesiedelt, lebt heute in Beccles/Suffolk England.

Sie berichtet: „ Meine liebsten Erinnerungen von der „Heimat“ sind noch von meiner Kindheit und Schulzeit (…). Mein Elternhaus war Austum 62, später Wallenbrock 18. Wenn ich an Austum denke, sind es immer frohe Gedanken. Ich denke besonders an Heuveldopsbusch, Müldersbusch, die Quelle gegenüber der Einfahrt von Bauer Blomert. Als Kinder liefen wir immer den Abhang herunter zu der Quelle und fingen das Wasser in den Händen. Kurz hinter der Quelle, an der linken Seite, führte ein Hohlweg. Da ging man durch eine herrliche Wiese zur Ems. Für mich der schönste Fluss der Welt. Und die Schulausflüge zum Venn und zum Brook bringen mir frohe Andenken. Das man so in der Gegend nach Herzenswunsch herumstrolchen konnte, ist mir erst so richtig zum Bewusstsein gekommen, als ich hier in Suffolk/England ankam. Hier gab es fast nur große Grundbesitzer und das meiste Land und Wälder waren privat, ummauert, eingezäunt und verdrahtet. Die Bevölkerung war sehr arm, doch sehr loyal.

Ich kann nicht sagen, dass England mir zur „Zweiten Heimat“ geworden ist!“

Alfred Hölscher aus der Schweiz schreibt ausführlich, wie es lohnt, sich mit dem Thema „Heimat“ auseinander zu setzen. Er hat sich einige Gedanken über sich und seine „Heimat“ gemacht. Dabei ist er zu der Erkenntnis gelangt, dass das Wort „Heimat“ für jeden Menschen einen anderen Stellenwert einnimmt.

Er stellt sich die Frage: „Wo ist meine Heimat?“

„Geboren bin ich in Emsdetten einer mittleren Kleinstadt im Münsterland. Ich erlebte eine geschützte Kindheit mit Geschwistern, Freude und Liebe, trotz Nachkriegswirren. Demnach bezeichne ich Emsdetten in meinen Kinderjahren als meine „Heimat“, denn hier war ich glücklich, hier lebten meine Eltern, meine Geschwister, hier war alles vertraut. Jedoch realisiert man in seiner Kindheit seine „Heimat“ nicht unbedingt. Man fühlt sich eher beschützt. Gerade dieses Beschützt sein ist ein großes Faktum der Heimatgefühle. „Heimat“ muss demnach Frieden und Geborgenheit bedeuten.

Im jugendlichen Alter von 21 Jahren hat dann mich aber das Fernweh gepackt und ich wanderte 1967 aus. Das Ziel meiner Auswanderung war die Schweiz. In einem kleinen Dorf am Zürichsee fand ich eine Arbeit, eine Frau und neue Freunde. Schnell fühlte ich mich hier im Kreise meiner Familie und Freunde heimisch. Ja ich fühlte mich heimisch, aber es war nicht meine „Heimat“. Denn hier galt ich als Deutscher, als Ausländer. Jedoch ließen es mich die Menschen nie anmerken. Es war sicher nicht selbstverständlich, denn nicht überall auf der Welt sind Deutsche beliebt. Um diesem Fremdsein aber zu entgehen, lernte ich ziemlich schnell den Schweizer Dialekt, den ich Heute fast akzentfrei beherrsche. In früheren Jahren besuchte ich auch des öfteren Emsdetten, meine Heimat- und Geburtsstadt in meinem Heimatland aus Kindertagen.“

Alfred Hölscher schildert in seinem Antwortschreiben auch von negativen Erlebnissen, die er auf seinen Urlaubsreisen in Deutschland erlebt hat. Bei einer Zwischenstation im Duisburger Bahnhof wurden er und seine Kinder als „Ausländerpack“ bezeichnet, weil sie sich wie gewohnt, nun im Schweizer Dialekt unterhielten.

Er schreibt weiter: „ Einige Jahre später, wieder bei einem Besuch in Emsdetten, besuchte ich die Innenstadt, aber wo war sie? Wo waren die mir vertrauten Häuser und Gassen und Ecken meiner Heimatstadt? Ich fand sie nicht!

Da auch mein Elternhaus abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt wurde, hatte ich plötzlich nicht mehr was mich an meine „Heimat“ erinnerte. Kein Elternhaus, kein Heimatland und auch keine Heimatstadt mehr. Dieses mag kindisch und banal klingen, aber es schmerzt.

Zurückgekehrt an meinen Wohnort in der Schweiz, beantragte ich das Schweizer Bürgerrecht. Denn an meinem Wohnort gefiel es mir und ich fühlte mich wohl. So hatte ich wieder eine „Heimat“. Heute kann ich also sagen: „Ich bin ein Heimatloser mit neuer „Heimat“. Heimat ist dort, wo man glücklich ist und sich zuhause fühlt!“

So weit die Ausführungen von Alfred Hölscher. Ganz vergessen hat er seine alte „Heimat“ trotzdem nicht. Mit der Internetseite www.detten.ch bereitet er sich selber und auch uns eine Freude. Er überschreibt seinen Internetauftritt mit  „Mien aolle Detten“. Der Heimatbund hat nicht nur Post von Helmut Schwarte aus Südafrika erhalten, sondern konnte sich auch telefonisch einige Male zu dem Thema „Heimat“ austauschen. Helmut Schwarte bedankt sich, dass der Heimatbund ihm regelmäßig die Emsdettener Heimatblätter zukommen lässt. Somit erfährt er Neues und Altes aus der „Heimat“.

Auszug aus der schriftlichen Stellungnahme: „Sehr geehrter Herr Schröder, ich muss Ihnen Recht geben, das Wort Heimatgefühl ist nach 54 Jahren in Südafrika bei mir immer noch eine Herzensangelegenheit. Ich bin in Emsdetten aufgewachsen und im Januar 1953 mit meinen Eltern und meinem Bruder Paul nach Südafrika ausgewandert. Ich war 19 Jahre! Mein Vater, der bei der Firma Schlutz in Emsdetten tätig war, baute in deren Auftrag in Paarl in Südafrika einen Jute Webereibetrieb auf. Die Firma heißt noch Heute „Spilo“. Nach viereinhalb Jahren in Südafrika habe ich meine eigene Firma gegründet. Eine Zylinder und Kurbelwellen-Schleiferei (Motorenüberholung), wie die Firma Carl Schwarte, heute Herbert Schwarte, ist. Aus dessen Haus, Borghorster Straße 50, stammt mein Vater. 1960 bin ich das erste Mal wieder nach Deutschland geflogen und habe meine Heimatstadt Emsdetten besucht. Hier habe ich meine Frau Inge, geb. Hinderding, geheiratet. Wir kannten uns schon länger, meine Eltern und ihre Eltern waren befreundet. Danach war ich laufend geschäftlich in Europa und landete am Ende immer in Emsdetten um Freunde und Verwandte zu besuchen. Zu den 200 Jahrfeiern der Dorfbauern Schützengesellschaft im Jahre 2005 habe ich die Schirmherrschaft übernommen. Im Januar/Februar 2006 waren 13 Dorfbauern bei uns zu Besuch. Hierüber haben wir uns sehr gefreut. Wir freuen uns immer, wenn Emsdettener zu Besuch kommen! Wir haben viel über Emsdetten geredet. Die mir von den Dorfbauern mitgebrachte Emsdettener Stadtfahne hängt im Vereinshaus des Deutschen Club Paarl. Dieser Club wurde bereits 1926 gegründet, fünf Jahre war ich ihr 1. Vorsitzender. Nach der Apartheid wird unser Südafrika auch die „Regenbogen-Nation“ genannt. Hier leben Menschen aus allen Völkern, Nationen und Glaubensrichtungen. Der Regenbogen umfasst alle Nationen und Völker“.

Soweit aus dem Brief von Helmut Schwarte. Am Telefon hat er den großen Wunsch geäußert, in seiner Heimatstadt noch einmal Schützenfest zu feiern.

Möge sich die Sehnsucht nach einem „Vivat Schüttenbeer“ erfüllen.

3. Teil

Ehemalige Mitbürger haben sich auf Wunsch des Heimatbundes in zahlreichen Briefen zu dem Thema „Heimat“ geäußert.

Besonders erfreut war ich, dass Alfred Meyer aus der Schweiz bei einem seiner Heimaturlaube den Heimatbund aufsuchte und in einem persönlichen Gespräch mit mir ausführlich Gedanken zur „Heimat“ austauschte. Beruflich viel gereist, schilderte er, welchen Bezug die Bürger in anderen Ländern zu ihrer „Heimat“ haben. Keine andere Sprache kennt eigentlich das Wort „Heimat“, gleichwohl ist das Gefühl für „Heimat“ überall in der Welt stark ausgeprägt. Er berichtete, welche Probleme er habe, sich schriftlich mit dem Thema auseinander zu setzen. Gedanken und Gefühle an seine Jugendzeit, sowie Erinnerungen an seine Heimatstadt Emsdetten seien ihm durch den Kopf gegangen. Mit einem leichten Zwingern sagte er: „Ich konnte Nachts sogar nicht schlafen…!“ Auf diesem Wege nochmals ein  Dankeschön an Alfred Meyer für das anregende und leidenschaftliche Gespräch verbunden mit herzlichen Grüßen aus Emsdetten. Gerade das Gespräch mit Herrn Meyer hat gezeigt, dass es sich lohnt, sich mit dem Thema „Heimat“ zu beschäftigen.

Häufiger Gast in seiner Heimatstadt ist Walter Haverkamp. Mit der „Heimat im Herzen“ hat er als Zwanzigjähriger Emsdetten verlassen, ist seinem Geburtsort aber stets treu geblieben. Seine enge Verbundenheit zu seiner „Heimat“ prägen auch seine begeisternden Auftritte beim „Bunten Abend“ des Heimatbundes.

Walter Haverkamp schreibt: „Die Tatsache, dass ich mich als Mitglied des Heimatbundes mit meiner geliebten plattdeutschen Heimatsprache Jahr für Jahr mit Freuden zur Verfügung stelle, sagt sicherlich schon einiges über meine Einstellung zu meiner ersten Heimat aus (…wenn es überhaupt eine zweite Heimat geben sollte!?)

Du hattest ja in Deinem Anschreiben bereits viele treffende Wort aus dem Bereich „Heimat“ erwähnt: „Ort der Erinnerung, Sehnsucht nach Vertrautem und Geborgenheit, Beständigkeit und festen Wurzeln“, alles Kriterien, die auch für mich zutreffend sein dürften.

Für mich, der ich ja der Heimat den Rücken gekehrt habe und in der „Fremde“ wohne, ergibt sich jedoch ein besonderer Stellenwert zu meinem Geburtsort. Wer, so wie ich, auf eine erfüllte Kindheit und Jugendzeit an diesem Ort zurückblicken kann -wenn auch unter Kriegsbedingungen-, der entwickelt eine nachhaltige Verbundenheit durch prägende Erlebnisse in der damaligen Zeit.

Ich erfuhr meine berufliche Ausbildung in Köln (6 Jahre), meine erste dienstliche Anstellung in Werne a.d.Lippe (8 Jahre) und schließlich als (vorläufige) Endstation Meinerzhagen im Sauerland (bisher 40 Jahre).

Die Entfernung Meinerzhagen-Emsdetten ist bei entsprechender Mobilisierung als unbeträchtlich einzustufen, so dass sich ein Besuch meiner Heimatstadt sehr kurzfristig ermöglichen lässt und ein Gefühl von Heimweh wenig Aussicht auf Bestand hat. Ich hoffe, hier ein zulässiges Maß an Intimität preiszugeben, wenn ich einen Gang durch die Innenstadt Emsdettens als „herzlich wohltuend“ bezeichne, dagegen den Gang durch die Fußgängerzone in Meinerzhagen als „ökonomisch notwendig“. Da ich als „mobiler“ Mensch aber auch gerne an weiter entfernten Plätzen weile -Ingolstadt und Saarbrücken als Wohnort meiner Kinder und Kindeskinder, Bad Zwischenahn als altvertrauter, pflichtmäßiger, über fünfzigmaliger Urlaubsort- so stehe ich vor der Notwendigkeit, eine Rangfolge aufzustellen in der Verbundenheit mit anderen pseudo-heimatlichen Gefilden. Wie du siehst, ist das Wort „Heimat“ für mich schon ein sehr komplexer Begriff. Lass mich zum Schluss noch auf Kriterien eingehen, mit denen die Liebe zur Heimat nicht treffender auszudrücken ist, nämlich mit Liedern und Gedichten.

Die Kölner (ich habe während meiner Studienzeit die „kölsche Mundart“ kennen und schätzen gelernt) haben dies mit einem Lied geschafft, dessen Text wie folgt lautet: „En Köln am Rhing ben ich gebore, ich han un dat litt mer im Sinn, ming Muttersproch noch nit verlore, dat is jet wo ich stolz drop ben! Wenn ich su an ming Heimat denke, uns in d`r Dom su vör me stonn, mööch ich direkt op Heim anschwenke, ich mööch zo Foß no Kölle jonn!“

Dieses Lied drückt, auch durch seine ergreifende Melodie, eine so tiefe Sehnsucht nach der „Heimat“ aus, dass im 2.Weltkrieg das Abspielen des Liedes durch Adolf Hitler verboten wurde, wegen „wehrkraftzersetzender“ Wirkung bei den kämpfenden Truppen.

In Anlehnung an dieses Lied habe ich mir erlaubt ein „Riemsel“ in Limerick-Form zu „schmieden“, das meine Gefühle gegenüber der Heimat, hier besonders der plattdeutschen Sprache, ausdrückt: „In`t Suerland wuent`n Magister uut Detten, de küere Platt all bi`t Pinneklaut setten. Nu schiält em dat Platt, daorüm mot man vöstaon, wan he säg „To`t Küern un üörnlik te fie`rn, mog ik wul tofote nao Detten hengaon!”

Ende des Zitates aus dem Brief von Walter Haverkamp.

Lieber Heimatfreund Walter, obwohl wie du schreibst, eine ausführliche Stellungnahme zum Thema „Heimat“ in unantastbare menschliche, um nicht zu sagen, intime Lebensbereiche eingreift, sind wir für deinen wertvollen Beitrag dankbar und wünschen uns für die Zukunft noch viele gemeinsame Begegnungen im Kreise des Heimatbundes. Herzlichen Dank!

Post erhielt der Heimatbund auch aus Australien. Im Auftrag seines Bruders Albert, verfasste Hans S. Roleff seine Gedanken zum Thema „Heimat“ in einem interessanten Antwortbrief.

Er schreibt: „Als ich im Oktober 1956 auf der „Castel Felice“ Cuxhaven verlies, hatte ich auf keinen Fall eine vollständige Vorstellung von dem Begriff „Heimat“, denn ich hatte Deutschland nie verlassen, obschon durch zwei Kinderlandverschickungen und zwei Fluchten aus dem östlichen Deutschland (Großdeutschland damals), der Begriff vom Elternhaus ganz schön unter die Lupe kam. Mehrere Jahre ohne Eltern, Vater im Krieg, Mutter im Ruhrgebiet, haben vielleicht den jungen Knaben mehr über seine Familienbande nachdenken lassen und um sie zu bangen bewegt, als es den meisten zufiel. Aber nachdem die vertrauten Gesichter der Freunde, Verwandten, Nachbarn und Chorkameraden hinter uns verschwunden waren, kam das erschütternde Bewusstsein: Du hast deine „Heimat“ verlassen, dort wo du geboren bist und wo du die ereignisreichsten ersten 22 Jahre deines Lebens verbracht hast, 12 von diesen Jahren in Emsdetten! Dort waren die Jugendjahre verlebt worden und der Charakter geprägt und die Talente ausgegraben worden. Was soll nun werden? Fast ohnmächtig der englischen Sprache, mit nur kaufmännischen Qualifikationen ausgerüstet, sollte eine neue Welt erobert werden! Gottdank war die Familie zusammen und nahm das Abenteuer geschlossen auf sich. Dieses wurde dann auch bald von großer Wichtigkeit, denn mit der „Heimat“ verbanden sich die Jahre der Kindheit und Jugend und des Jungmannesalters, während welcher die Brüder und die Eltern, vor allem die Mutter, ein unablösbarer Teil des Lebens geworden war. Also, man nahm einen Teil „Heimat“ mit! Ich könnte mir gar nicht vorstellen, dass ich jemals die „Heimat“ alleine verlassen hätte, wie mein Bruder Albert es getan hatte. Also erwartete uns drüben im fünften Erdteil schon ein Stück „Heimat“, der Bruder mit Frau und erstem Enkelkind.

Man merkte natürlich sofort, dass auch hier in Australien die Menschen mit einem Kopf zwischen zwei Ohren und Augen und Nase und Mund herumliefen, dass sie miteinander sprachen, zueinander gehörten, arbeiteten, spielten, tranken und aßen, und so war sofort eine Wesensverwandtschaft da, mit der man sich vertraut machen konnte. Das Schlimmste für mich war die fast vollständige Unfähigkeit, mich zu verständigen oder etwas zu verstehen. Der Straßenverkehr auf der linken Seite, die Frauen und Männer fast überall in den öffentlichen Einrichtungen, so zum Beispiel Kneipen, immer getrennt. Der Fußball wurde mit eirigen Ball gespielt, Sportarten wie Tennis, Kricket, Rugby, Polo alle mehr oder weniger jedem zugänglich. Von den unterpriviligierten eingeborenen schwarzen Australiern war nicht viel zu sehen, es sei denn, man kam in gewisse Slums. Dort war ihr elendes Dasein klar erkenntlich. Durch meine Arbeit im olympischen Dorf während der Spiele und noch einige Monate danach, hatte ich Kontakt mit den deutschen Köchen und Konditoren. Im Lager waren noch andere deutsche Familien untergebracht, aber niemand aus Emsdetten. So ging es natürlich mit der Verständigung sehr gut, aber das Bewusstsein, dass man im Alter von 22 Jahren als total unwissendes Kleinkind in ein fremdes Milieu „hineingeboren“ wurde und sich dessen voll bewusst war, traf mich doch sehr tief. Das erste Bedauern und die erste Reue über die Auswanderung begannen sich zu regen. So war für die ersten Jahre nicht von einer neuen „Heimat“ zu reden. Das Heimweh nahm einen gefangen. Wie schon damals während der unruhigen Zeit in Deutschland, litt ich sehr darunter.

Es war aber an eine Heimkehr demnächst nicht zu denken -es war einfach kein Geld dafür da-!

Man wurde älter, die ersten schweren Berufsjahre gingen vorbei, die Sprache wurde mehr oder weniger perfekt erlernt. Und dann begann eine kaufmännische Karriere, auf die ich durch meine Ausbildung in Deutschland vorbereitet war. Bald merkte man, dass auch hier die gleichen Geschäftsprinzipien herrschten und galten. Die Währung und die Masse waren anders, aber als junger Mensch lernt man so etwas schnell. Diejenigen Einwanderer, die es schwer fanden sich einzuschulen, oder die es nicht wollten, blieben immer Fremde, wenigsten in ihrer Einschätzung. Dann wurde der Deutsche Klub in Melbourne entdeckt, man trat dem Männerchor bei, man lernte Autofahren und war in der Lage, für sich selbst und später für die junge Familie (am Ende 9 Kinder) das Land zu eröffnen und zu entdecken.

1976 kam die erste Heimreise nach Deutschland und nur so konnte man das nagende Heimweh überwinden. Wie heißt es im Lied: „Die alten Straßen noch, die alten Häuser noch, die alten Freunde aber sind nicht mehr“. Ich habe in Emsdetten sofort eines gelernt, diese alten Lieder sind eben alt! Die alten Straßen waren teils umgelegt, erweitert, fast unerkennbar, die alten Häuser waren vielerorts abgebrochen und moderne Strukturen an ihre Stelle gesetzt, aber die alten Freunde waren noch da. Man erwartet ja doch Änderungen nach 20 Jahren, aber wie schön war es, die Freunde bis auf einige wenige wieder zu sehen. Da wurde es mir bewusst, dass es hier nicht um Häuser und Straßen geht, sondern um diejenigen, die mit uns die „Heimat“ erlebt hatten, die unser Schicksal geteilt hatten und die uns unabkömmlich geworden sind. Aber es war auch schön, das man sich wieder kennen lernen konnte, die neuen Familien, die geschaffen wurden, die uns zeigten, dass unsere „Heimat“ ein Zustand, nicht ein Ort ist.

Es war mir entschieden leichter, mein Leben in Australien weiterzuleben, mit erneutem Briefwechsel und Versprechen des weiteren Besuches positiver zu gestalten, so dass ich Grund fand, die Heimatsprache weiter zu pflegen, den Umgang mit deutschsprachigen Menschen weiter zu suchen, auch mich der weiteren Welt weiter zu erschließen, denn Gott hat uns doch alle auf diesen Planeten gesetzt, damit wir eine Familie unter seinem Hut und unter seinem Gesetz sein sollten. So ist ja doch wohl schließlich und letzten Endes die ganze Erdkugel unsere „Heimat“!

Herzlichen Dank und heimatliche Grüße aus Emsdetten an Familie Roleff.

4. Teil

Mit dieser Ausgabe möchten wir unsere kleine Serie: „Ehemalige Mitbürger äußern sich zu dem Thema „Heimat“, abschließen.

Der Heimatbund hat sich sehr über den umfangreichen Antwortbrief von Karl-Ludwig Vollmar, heute wohnhaft in Köln-Lindenthal, gefreut.

Er überschreibt seine Erinnerung mit dem Titel:
„Mein altes Emsdetten  1944-1953“.

In kurzen Ausschnitten möchte ich daraus zitieren!

„1941 wurde ich in Münster geboren, von dort stammte auch mein Vater, meine Mutter war gebürtige Emsdettenerin. Die ersten Lebensjahre im schon fortgeschrittenen Krieg verbrachten wir in Berlin, wobei ich an diese Zeit keine Erinnerung mehr habe. Unser Kindermädchen Else war ebenfalls aus dem Münsterland – mit ihr sollte ich 1944 eine große Eisenbahnreise durch Deutschland antreten, weil das brennende von Bombenangriffen gepeinigte Berlin zunehmend eingekesselt wurde und wir nach Westfalen evakuiert werden sollten.

Es war vorgesehen, dass wir Unterschlupf bei unserer Großmutter in Emsdetten finden sollten. Wir zwei bildeten die Vorhut – meine Eltern mit dem inzwischen geborenen jüngeren Bruder folgten später nach. Unsere Schwester wurde 1949 geboren und ist stolz, wie unsere Mutter eine Emsdettenerin zu sein.  Die Reise mit der Eisenbahn war sehr erschwert und wir mussten lange Umwege in Kauf nehmen, bis wir in dem auch besetzten Emsdetten ankamen. Die Familienhäuser waren zum Teil durch englische Soldaten belegt, so dass alle zusammenrückten, um den Neuankömmlingen Platz zu schaffen. Wir wohnten zunächst gegenüber von der Firma Stroetmann am alten Friedhof, direkt neben dem Gefallenen Denkmal. Später zogen wir dann zur Großmutter Frieda Mülder in die Münsterstraße 24. In der Folgezeit lebten mit ihr drei, oder auch vier Familien unter einem Dach zusammen. Erst jetzt setzten für mich Erinnerungen ein, vor allem an unbeschwerte, glückliche Kinderjahre, auf die ich mich zunehmend besser besinne, je länger ich diese Zeit vergegenwärtige. Manchmal fallen mir auch scheinbar belanglose Details ein, über die ich mich wundere. So geht es auch meinen Vettern und Cousinen, die das gleiche Erinnerungsphänomen beobachten, wenn wir gemeinsam in alten Emsdettener Zeiten schwelgen. Prägende Erinnerungen gab es im Zusammenleben mit der Großfamilie, sowie in der Möglichkeit zu spielen und sich in einem „riesigen“ beidseits des Mühlenbachs zwischen Münster- und Franz-Mülder-Straße gelegenen Abenteuer-Areals bewegen zu können. Wir waren meist mit unseren Vettern und Cousinen ganztägig zusammen um irgendetwas „Tolles“ auszuhecken, ebenso mit Freunden aus der Nachbarschaft. Erwähnenswert sind an erster Stelle  die lebendige und lustige Familie Hein Fritz, wobei die Eltern mit 6 Kindern in der phantasievollen früheren Villa Louis wohnten, die später nach Franz Mülder benannt wurde. Jan und Heinz waren unsere dicksten Freunde, jederzeit zu einem Abenteuer bereit, ebenso Werner Lechtreck von gegenüber, der alles mitmachte, was uns so wieder rein zufällig im Kopf herumspukte. Häufig aber nicht zur Freude der angrenzenden Bewohner. Etwas reifer an Jahren, von uns allen geschätzt, war Ludger Schilgen, genannt Wutkus, der sich gelegentlich herabließ uns bei den geplanten Untaten zu beraten. Im Garten seiner Eltern gab es einen steilen Hügel, der sich im Winter phantastisch zum rodeln eignete, aber genau das war verboten. Verständlicherweise setzten wir alles daran doch bei sich bietenden Gelegenheiten genau das zu tun; kleine Strafen und mahnende Worte von Onkel Fritz und Tante Mietze in Kauf nehmend.

Unterbrochen wurden diese beliebten praktizierten Tagesabläufe durch die Einschulung in die Heidberge-, später Buckhoffschule. Noch ernster kam es beim späteren Wechsel in das städt. alt sprachlichen Progymnasiums Emsdetten. Ostern 1953 zogen wir nach Köln um, unser beim Finanzamt arbeitender Vater wurde ins Rheinland versetzt und der tränenreiche Tag des Abschieds nahte, da wir Emsdetten verließen. Die paradiesischen Kindertage in Emsdetten gingen für meine Geschwister und mich zu Ende und es brauchte einige Zeit bis wir uns in der zweiten, jetzt rheinischen „Heimat“ eingelebt hatten. Was hat uns Emsdetten in diesen wichtigen Jahren unserer Kindheitsentwicklung gebracht?

Ich glaube, man kann es zusammenfassen in dem Gewinn an Urvertrauen, das glücklicherweise nicht wie bei vielen Gleichaltrigen durch die Umstände des Krieges erschüttert wurde. Normalität ohne wirtschaftliche Nöte wurde im Kreise einer großen solidarischen Familie und vieler Freunde in einer Kleinstadt gelebt, deren Charme alte und neue Emsdettener auch heute für sich einnimmt. Die Stadt hat ihre Identität bewahrt und es ist noch immer reizvoll hier leben zu können. Die Verbindungen zum Münsterland sind nicht abgebrochen. In Emsdetten lebt noch eine von uns allen heiß geliebte Tante. Unsere Cousine Monika organisiert sehr ideenreiche Pättkestouren, damit uns die wunderbaren Wälder und üppigen blühenden Wiesen und Felder rund um Emsdetten gegenwärtig bleiben. Die typische Emslandschaft hat es mir radelnderweise sehr angetan. Ich werde erinnert an frühere nicht ganz ungefährliche sommerliche Badeausflüge zur Ems, aber auch an Wintervergnügen mit der gar nicht so seltenen Möglichkeit Schlittschuh auf überschwemmten Wiesen rund um das damalige Lokal Waldesruh zu fahren. Auch der Mühlenbach spielte eine wichtige Rolle. Er lief mitten durch unser Spielparadies und wurde in spannende Unternehmungen einbezogen. Die Einschulung in die Volksschule wurde begleitet auch durch das Darreichen einer Schulspeise, die von den Besatzermächten spendiert wurde. Man musste ein Messingkochgeschirr mit in die Schule bringen, es gab Wasserkakao mit einem wohlschmeckenden Brötchen, gelegentlich habe ich noch heute den metallenen Messing-Geschmack auf der Zunge. Ich war ein mäßiger Schüler, durfte aber Hilfe in Anspruch nehmen, speziell um die ersten Hürden auf dem Gymnasium zu nehmen. Meinen Eltern anempfohlen wurde Rektor a.D. Franz Lechte, wohnhaft am Katthagen, der sich gütig meiner annahm, wenn der Ernst(e) Lateinlehrer zu streng und die Diktate des Fromme(n) Deutschlehrers zu schwierig waren. Letzter, auch Pius genannt, war zahnärztlich miserabel versorgt. Sowohl die Unter- als auch Oberprothese saßen schlecht, sodass während des Redens fast schmatzende und feuchte Artikulationsstörungen resultierten.“

Herr Vollmar führt in seinem Antwortschreiben weitere aufregende Schulvorkommnisse auf, die einen braven Schüler in Rage versetzen konnten. Leider können wir diese aus Platzgründen nicht weiter zitieren.

An eine besonders verehrungswürdige Persönlichkeit, die von vielen Emsdettenern geschätzt wurde, möchte Herr Vollmar aber noch erinnern.

Es war der damalige Kaplan Heifort, tätig in der Herz-Jesu Kirche als Seelsorger, der daneben im Gymnasium Religions-Unterricht erteilte. Dann wurde er nach Münster ins Priesterseminar berufen, um später wie er selbst zitierte wieder einfacher Pfarrer in Hembergen zu sein. Er war ein überzeugender Gottesmann, ein charismatischer Prediger und ein freundlicher bescheidener Mensch. Schon als Sextaner hatte man eine Ahnung seiner besonderen menschlichen Größe. Mancher von uns Jungen wurde Messdiener unter der Obhut von Pfarrer Schweins in der Pfarrkirche St. Pankratius. Jeder musste sich langsam hocharbeiten, um auch einmal das Weihrauchfass schwenken zu dürfen und nicht immer nur eine Kerze tragen zu müssen. Mit weiteren Beobachtungen und besonderen Erlebnissen Emsdetten betreffend schießt Herr Vollmar seinen Brief. Der Heimatbund bedankt sich recht herzlich für die lebendigen Erzählungen und Erinnerungen.

Prof. Peter Niehaus hat sich für seine Antwort wie er selbst schreibt „Zeit gelassen“, da er nach vielen berufsbedingten Stationen nochmals seinen Wohnort gewechselt hat. Fulda ist nun seine neue „Heimat“ für das Alter.

Er schreibt: „ Heimatbewusstsein habe ich für mich erinnerlich wohl zum ersten Mal während eines Studienjahres in den USA entwickelt, also nicht so sehr auf meinen Geburtsort Hannover, sondern im Gefühl, außerhalb Deutschlands als Europäer in den USA zu leben, bestehen zu lernen in einer ganz anderen Welt,  nicht negativ, aber in allen Kategorien menschlichen Empfindens und Erlebens reichend. Diese Erkenntnis hat mein Bewusstsein, Empfinden und Handeln durchweg begleitet bis in meine späten beruflichen Jahre bei Siemens, auf Reisen zu Bauprojekten fast auf der ganzen Welt. Mit dem jeweiligen Wohnort unserer Familie war zwar ein Festpunkt gegeben gegenüber der anderen für mich auch heimatlichen Erfahrung in der Vielfalt von Aufgaben und Orten, den Erfahrungen und Erlebnissen, der Freundschaft mit Menschen, mit denen man gleichsam in einer privaten Heimat zusammen war und weiterhin ist. Für mich ist keine Frage „Heimat“ als zeitgemäße und notwendige Kategorie zu führen. Für unsere Familie bleibt charakteristisch, über weite Strecken an immer wieder anderen Standorten heimisch zu sein. Gerade weltweites Arbeiten und die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen sind für Menschen wohl nur zu verkraften, wenn sie in Gegenwirkung zu dieser Entwicklung irgendwie/wo zu Hause sein können. In Emsdetten empfinde ich „Heimat“ in mehrfacher Hinsicht. Wir haben viele Freunde gewonnen; in direkter Nachbarschaft und verstreut im Münsterland. Mit einigen dieser Freunde sind wir bis heute verbunden. Emsdetten mit seinem alten Rathaus, auch dem Neuen, war für mich als Berufsanfänger wichtige berufliche „Heimat“. Als Stadtbaurat wollte ich mit meiner Arbeit dazu beitragen, dass andere Menschen in dieser Stadt „Heimat“ finden und empfinden konnten. Ich hoffe, dass dies im Zusammenwirken mit den Architekten vor Ort in der damals neu geschaffenen Stadtmitte, in den damals neu entstandenen Wohngebieten, aber auch in den Freiräumen der Stadt als „Heimat für Andere“ erfahrbar geworden ist.

Lieber Herr Schröder, ich hoffe, Ihnen ausreichend geantwortet zu haben. Durch die notwendige Knappheit sind einige weiter ausführende Gedanken, auch Namen aus Stadtpolitik und Verwaltung, die für mich noch heute dazu gehören, nicht erwähnt. Beim Sortieren unseres Umzugsgutes sind mir ein paar Diapositive aus meiner ersten Zeit in Emsdetten in die Hände gekommen, die ich gerne an Sie weitergebe. Sie sind technisch nicht alle OK, inhaltlich eher zufällig. Die Dias mit den Plänen zur Stadtkernsanierung sind vielleicht doch von dokumentarischem Wert.“

Vielen Dank Herr Prof. Niehaus für Ihre Stellungnahme zum Thema „Heimat“.

Die freundlicherweise überlassenen Dias haben wir eingescannt und somit zukunftssicher archiviert. Herzliche Grüße aus Emsdetten!

Aus Manila erreichte uns im letzten Jahr auch ein Brief von Pater Dr. Franz-Josef Eilers, svd. zum Thema „Heimat“

Pater Eilers schreibt: „Wenn ich hier auf den Philippinen meinen Studenten an der theologischen Hochschule (Priesterseminar) und der Universität die anthropologischen Begriffe acculturation und enculturationerkläre, dann denke ich immer wieder an meine eigene Jugend in Emsdetten. Denn Enculturation meint eigentlich „Heimat“, d.h. eine Kultur, in der man durch Geburt und Kultur eingebettet wird und die so grundlegender Teil des eigenen persönlichen Lebens wird. Lebensanschauung, Gefühle und Erwartungen aber auch Verhaltenweisen werden von dieser „Heimat“ (Kultur) bestimmt.

Gern erinnere ich mich an die Kindheitsjahre in der Familie, einschließlich der häufigen Besuche in Münster, der Heimat meiner Mutter. Die Erfahrungen mit Lehrern  in der Schule, noch mehr aber jene in der Pfarrei Herz Jesu mit ihren vorbildlichen Priestern sind auch heute noch Grundlage des persönlichen und geistlichen Lebens, die von der „Heimat“ nicht getrennt werden können. Noch heute erzähle ich meinen Seminaristen, wie Kaplan Austermann uns als junge Messdiener „gedrillt“, aber auch motiviert hat für den liturgischen Dienst; ich versuche hier das Gleiche zu tun. Die Erfahrungen des Krieges mit seinen Luftangriffen, aber auch den Wiederaufbau, vor allem von Münster, kann man nicht vergessen. Sie bilden auch heute noch eine Grunderfahrung, die mitspielt, wenn in diesem Lande und anderen Teilen Asiens – ich arbeite außer meinem Unterricht für die „Föderation der Asiatischen Bischofkonferenzen – kriegsähnliche Ereignisse aufleben. Mit Interesse lese ich auch hier in Asien einige Berichte der Emsdettener Volkszeitung im Internet. So bleibe ich auch mit der „Heimat“ verbunden. Sie bringen Erinnerungen und beleben das Bewusstsein von der eigenen „Heimat“, wo man seinen Ursprung hat. In meinen persönlichen Gesprächen mit Seminaristen und Priestern erzähle ich ihnen immer wieder von meiner Überzeugung und meiner persönlichen Erfahrung, dass die ersten fünf bis sechs Jahre im Leben eines Menschen entscheidende Jahre sind, in denen die Grundlage und Disposition für das ganze spätere Leben gelegt werden. Dies schließt dann besonders auch die „Heimat“ aus der man hervor wächst mit ein.“ Der Heimatbund bedankt sich bei Ihnen Pater Eilers und wünscht Ihnen für die Zukunft alles Gute.

Mit einigen Passagen aus der Ansprache von Horst Köhler vor der Bundesversammlung nach der Wahl zum Bundespräsidenten im Deutschen Bundestag am 23. Mai 2004 möchte ich abschließen:
„Die Schönheit unseres Landes, die Geschichte unseres Landes, die Probleme unseres Landes – das alles ist und bleibt Deutschland. Das ist unser Land, das ist unserer „Heimat“. Unser Land sollte uns etwas wert sein. Ich selber bin Teil einer Generation, die die Geschichte der Bundesrepublik als einzigartige Erfolgsgeschichte miterlebt hat, von der Aussöhnung mit unseren Nachbarn über das Wirtschaftswunder bis zur Wiedervereinigung. All dies sind große historische Leistungen und gute Gründe, uns selbst zu vertrauen, uns etwas zuzutrauen. Es sind für mich gute Gründe, unser Land, unsere „Heimat“, zu lieben.“ So weit der Bundespräsident.

Für die vielen Zuschriften möchte ich mich abschließend nochmals recht herzlich bedanken. Sie haben gezeigt, wie lohnend es sein kann, sich mit dem Thema „Heimat“ zu beschäftigen. Aus der „Heimat“ Emsdetten wünsche ich allen ehemaligen Mitbürgern eine schöne Weihnachtszeit und alles Gute für das Neue Jahr. Herzlichen Dank!